Das Auto der Zukunft wird schlauer als der Fahrer sein
VON Christian Erhardt Allgemein Auto
Was dort in den USA entstehen soll, ist im Grunde ein fahrender Computer, ein Rechner mit Motor und vier Rädern. Doch lassen sich fahrende Rechner dauerhaft auch vom Fahrzeugführer kontrollieren oder sind sie viel zu anfällig wegen all der Hochtechnologie, die in dem Fortbewegungsmittel steckt? Das sind Fragen, die sich sicherlich auch die Chefentwickler in Sindelfingen stellen mussten.
MB – neues Entwicklungs- und Forschungszentrum im Silicon Valley
Apple um die Ecke, Yahoo in Sichtweite – so einfach liest sich der Standort des neuen Entwicklungs- und Forschungszentrums von Mercedes-Benz, das vor einigen Monaten feierlich eingeweiht wurde. In Sunnyvale im Staat Kalifornien und nicht in Sindelfingen sollen die Weichen für die Zukunft von Mercedes gestellt werden – die helfen sollen, den traditionsbewussten Autogiganten aus Deutschland fit für eine junge Käuferschicht zu machen. Und wer junge Käufer ansprechen will, muss auf Hightech zurückgreifen.
Direkt im Unternehmen marschiert der Autobegeisterte in eine neue Welt – die neue Welt von Mercedes. „Dynamic and Intuitive Control Experience“, so soll das neue Baby heissen. Die Windschutzscheibe im Pkw, die den Fahrer früher einmal vor Wind und Wetter schützen sollte, wird zum grossen Display umfunktioniert. Die Realität wird massiv erweitert, Augmented Reality heisst die Zauberformel. Fährt man an einer Konzerthalle vorbei, erscheint auf dem Display – also der Windschutzscheibe – umgehend der Eventkalender. Welches Konzert würde sich lohnen?
Steuern lässt sich das Windschutzscheiben-Display über Spracheingabe oder über Gesten des Fahrers. Ein erster Blick mutet so an, als würde MB danach streben, Sitze und einen Motor sowie Reifen in und an einen Rechner zu bauen. Und doch wird die Serienreife noch einige Jahre auf sich warten lassen. Wie lange? Das kann man im Silicon Valley nie genau vorhersagen. Da wurden Wunder auch schon über Nacht vollbracht.
MB will das digitale Leben ins Auto transportieren
In der Sichtweise der Ingenieure von Mercedes-Benz kann man sich im Oberklassenmarkt nur dann behaupten, wenn es gelingt, die digitalen Lebensgewohnheiten der potenziellen Kunden ins Auto zu bringen. Das Armaturenbrett mutiert zum grossen Bildschirm, die Fahrgastzelle wird zur Infotainmentzentrale, der Wagen muss global vernetzt aufgestellt sein.
Mercedes ist, was das angeht, schon gut aufgestellt. In den Untergeschossen in Kalifornien stehen bereits vollvernetzte Fahrzeuge, an denen die volldigitale Zukunft erprobt wird. Elektronik, Messgeräte, Radarsysteme, Kamerasysteme, über die sich jedes Filmstudio freuen würde, und so weiter lassen einen Einblick zu, wie sehr sich MB bemüht, das autonome Fahren zu realisieren. Der Konzern nimmt das Vorhaben richtig ernst.
Bordcomputer und Smartphone werden zur Einheit – plus Google Glass
Bereits seit dem Jahr 1995 ist Mercedes-Benz im Silicon Valley vertreten. Schon da dachte MB daran, dass das Auto der Zukunft in den USA und im Bereich des Hightech-Valleys gebaut würde. Das kleine Aussenbüro ist heute auf 150 Personen angewachsen. Designer arbeiten eng mit Programmierern zusammen, um aus dem Bordcomputer und den neuen Generationen von Smartphones eine Einheit werden zu lassen. Mercedes hat es in der Zusammenarbeit geschafft, dass die Systeme in den Pkw der Nobelschmiede dazu fähig sind, eingehende Nachrichten der Social Media – zum Beispiel Twitter – vorzulesen; auch Termine können vorgelesen werden, das Internetradio läuft reibungslos und Google Street View wird von den Navigationsgeräten adaptiert.
Auch der nächste Schritt ist bereits geplant. Jetzt soll die Kommunikationsfähigkeit mit Datenbrillen (Google Glass) und den neuen Smartwatches hergestellt werden. Das soll so aussehen, dass man bis zu einem bestimmten Punkt via Navi fährt, dann aussteigt und den Rest an Wegstrecke bis zum Ziel per pedes fortsetzen kann – wobei die Daten auf die Smartwatch oder die Datenbrille übertragen werden. Vom Auto aus!
Dem Autofahrer das Leben leichter machen – so liest sich die Zukunftsvision von MB
Geht es nach den Software-Entwicklern von Mercedes, soll dem Autofahrer das Leben nachhaltig leichter gemacht werden. User Experience soll mit dem User Interface eine Einheit bilden und nahtlos verschmelzen. Nicht heute, nicht morgen, aber in der absehbaren Zukunft. Und exakt aus dem Grund findet man die Nobelschmiede auch im Valley. Standortvorteil, was den Hightech-Sektor angeht. Die Politik der kurzen Wege zu Apple, zu Yahoo, zu Facebook. So werden Apps schnell und problemlos synchronisiert.
Schon jetzt findet man die Apple-Entwickler sehr oft bei MB. Auch da schliesst man sich kurz, und so hat ein iPhone seinen Steckplatz direkt neben der Schaltung. Selbst die Symbolik im Bordcomputer ist Apple und eben nicht mehr MB. Car Play – sprachunterstützt mit Siri – soll das Baby heissen und dem Fahrer ermöglichen, die Sprachsteuerung seines iPhones zur Zielsuche beim Navi zu nutzen. Und all das bleibt eben nicht Apple-basiert, sondern wird um Google erweitert und mittels einer Android-App gefahren.
Komplexe Software – Segen oder Fluch?
Auch wenn festinstallierte Bordcomputer-Systeme weit stabiler arbeiten als vernetzte Smartphones, so trägt man bei MB dem Trend Rechnung, dass der Markt schnelllebig ist. Ein Gerät mit Festeinbau ist weit schwerer zu ersetzen, und wenn man den gewünschten Effekt mittels Smartphone-Kopplung erreichen kann, ist auch Mercedes weit flexibler. Während Automodelle nur alle sechs Jahre überholt sind, ändert sich die digitale Welt im Takt von einem halben Jahr. Hinzu kommt: Die Hightech-Schmieden haben das Auto als Markt für sich entdeckt – als Markt, der ein riesiges Potenzial bietet.
Problematisch ist nur, dass die Software, die zur Vernetzung des Wagens notwendig ist, ungemein komplex ist. Das bietet zwar die Chance, dass die kommenden Generationen an Fahrzeugen über Fahrzeugsysteme verfügen, die mittels Car Play, Windows Car oder Android Car gesteuert werden, aber komplexe Softwarelösungen bieten auch Ansatzfläche für viele, viele Fehlerquellen. Der Traum von einer Vollvernetzung von Smartphone, Datenbrille, Smartwatch, PC, Haus und Auto kann sich aus dem Grund auch schnell zum Albtraum entwickeln, so sich ein Fehler einschleicht.
Oberstes Bild: Mercedes-Benz arbeitet im Silicon Valley an seinem Auto der Zukunft (Bild: olgaru79 / Shutterstock.com )