Die Elektro-Harley – Revolution oder Abgesang auf eine grosse Marke?
VON Robert Schumann Allgemein Motorrad
Was den einen freut und das Blut in Wallung bringt, sorgt bei vielen anderen Mitmenschen für ähnliche Reaktionen – nur unter anderem Vorzeichen. Das Gebrüll und Gedonner eines vorbeifahrenden Harley-Davidson-Pulks sorgt nicht nur für Verstörung und Ärger, sondern vielerorts bereits für Hohn und Spott. Inzwischen hat das Auftreten des typischen Harley-Fahrers bereits seinen Weg in die US-Satiresendung „South Park“ gefunden.
Dies blieb auch beim Marketing von Harley-Davidson nicht unbemerkt. Hinzu kommt, dass eine dramatische Überalterung der Klientel festgestellt wurde. Will also diese traditionsreiche amerikanische Marke überleben, muss sie sich weiterentwickeln, und dies so schnell wie möglich.
Und tatsächlich, es tut sich was in Milwaukee. Mit der „LiveWire“ präsentiert Harley-Davidson seine Vision vom Motoradbau, und der ist – elektrisch!
Eine Elektro-Harley ist nun mit Sicherheit nicht das, worauf der Markt gewartet hat. Dessen ist man sich durchaus bewusst, darum bleibt es auch zunächst bei einer Kleinserie von 39 Fahrzeugen. Diese befinden sich gerade auf einer weltweiten Promotion-Tour und sollen vor allem die Kundenreaktionen ausloten.
Die Stammkundschaft reagiert bislang eher irritiert bis vergrätzt. Zwar ist die LiveWire optisch auch ohne den V2-Motor durchaus als typische Harley-Davidson identifizierbar. Das Wummern und Donnern ist aber bei der LiveWire durch ein leises Summen ersetzt worden, welches eher an einen Elektro-Gabelstapler erinnert denn an einen Chopper.
Und trotzdem: Die langen Gesichter der Stammkundschaft muss Harley-Davidson angesichts des steigenden Durchschnittsalters seiner Zielgruppe in Kauf nehmen. Eine neue Generation wächst heran, welche in vielen Punkten eine völlig andere Lebenseinstellung hat als ihre Grossväter. Die heute 20- bis 30-Jährigen wachsen in dem Bewusstsein knapp werdender Ressourcen, globalisierter Konkurrenz und massiv wachsender Umweltprobleme auf. Ein uraltes, stinkendes und höllenlautes Motorenkonzept ist der Apple-Generation einfach nicht mehr vermittelbar. Darum ist die Revolution bei Harley aller Wahrscheinlichkeit nach die einzige Überlebenschance des Unternehmens.
Die technischen Daten der LiveWire sind so, wie man sie von einem Prototypen erwartet. Die Reichweite ist mit 85 Kilometern noch reichlich zu kurz. Dreieinhalb Stunden Ladezeit wecken ebenfalls keine Begeisterungsstürme. Eine abgeriegelte Spitzengeschwindigkeit von 150 km/h ist für einen Chopper hingegen akzeptabel. Und was das Fahrgefühl angeht – nun, es ist anders, aber es ist gut.
Vorbei sind die Zeiten des lästigen Hochschaltens, des Hantierens mit Kupplungshebel und Fusspedal. Damit ist auch die Sorge, bei einem reissenden Kupplungsseil hilflos bei Tempo 120 in der nächsten Kurve nach einer gnädigen Ackerfurche Ausschau halten zu müssen, vorbei. Das als klassischer Gasgriff ausgelegte Potentiometer beschleunigt das erstaunlich leichte Motorrad absolut linear innerhalb von 4 Sekunden auf 100 Stundenkilometer. Begleitet wird die Beschleunigung vom typischen Sirren eines Elektromotors. Ob man darin einen Staubsauger oder einen Düsenjet hören möchte, liegt im Ermessen des Lauschenden.
Sosehr man dem Unternehmen Harley-Davidson eine klassische Linearität andichten möchte, bei genauer Kenntnis der Unternehmensgeschichte erweist sich diese Vorstellung doch sehr als Fiktion. Kaum ein anderes Unternehmen hat eine dermassen wechselvolle Geschichte vorzuweisen wie dieser amerikanische Motorradhersteller. Eigenständigkeit, Fremdherrschaft, fürchterliche Verwässerungen, Beinahe-Bankrotte und schliesslich komplette Neuerfindungen der ganzen Marke gaben sich in den letzten 100 Jahren in dieser Firma die Klinke in die Hand. Die LiveWire setzt also, aus dieser Perspektive betrachtet, die Tradition des „Sich-neu-Erfindens“ von Harley-Davidson konsequent fort.
Die Präsentation der LiveWire dürfte aber für die gesamte Motorradwelt Weckrufcharakter haben. Bislang haben nur wenig bekannte Marken wie „Brammo“, „Zero“ oder die Schweizer Marke „Quantya“ mehr oder weniger erfolgreiche Versuche in diesem Segment unternommen. Lediglich KTM aus Österreich ist ein weiterer international bekannter Motorradhersteller, der eine Markteinführung von Elektromotorrädern angekündigt hat. BMW hat mit der C Evolution ebenfalls ein sehr interessantes Konzept zur Serienreife gebracht, wenngleich dieses Fahrzeug mehr als „Roller“ denn als echtes „Motorrad“ wahrgenommen wird. Wenn aber erst einmal die grossen japanischen Marken auf diesen Zug aufspringen, dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich der Elektroantrieb für Motorräder durchgesetzt hat.
Ein kleiner Aspekt wird bislang beim Thema Elektromotorrad noch völlig ignoriert. Mit den verwendeten Radnabenantrieben sind völlig neue Konzepte möglich. Vorderrad- oder sogar Allradantriebe sind auf diesem Weg mit relativ wenig Aufwand realisierbar. Dies könnte zum durchschlagenden Argument für diese Antriebsart werden, da mit einem Allradantrieb ein wesentlich sichereres Fahrverhalten zu erwarten ist.
Zunächst bleibt es aber bei Elektrorollern oder dem Segway, wenn man sich elektrisch auf zwei Rädern im Verkehr bewegen will. Aber die LiveWire zeigt, wohin die Reise geht. Vom Donnergrollen der V-Twins wird man sich gedanklich verabschieden können. Das bedauert nicht wirklich jeder.
Oberstes Bild: Die Elektro-Harley – Revolution oder Abgesang auf eine grosse Marke? (© Harley-Davidson Motor Company)