Bentley vs. Blue Train – eine legendäre Wette wird 85 Jahre alt
VON Ulrich Beck Auto Bentley
Auf dem Autosalon Genf 2015 hat Bentley einen neuen Sportwagen vorgestellt, den EXP 10 Speed 6. Es handelt sich dabei zwar um ein Konzeptfahrzeug, aber aller Voraussicht nach wird der Wagen als kleiner Bruder des Continental GT mit nur wenigen Veränderungen in Serie gehen.
Einen Bentley „Speed Six“ gab es bereits in den 1930er Jahren. Um diesen rankt sich eine Legende, die, wenn auch etwas skurril, exemplarisch für die vielen sportlichen Erfolge der Marke im Lauf ihrer Historie steht.
Kurz gesagt: Es ging um eine Wette, die wahrscheinlich unter dem Einfluss von hochprozentigen Getränken zu Stande kam. Als Hauptakteur galt der Rennfahrer und mehrfache Sieger von Le Mans, Woolf Barnato. Der sehr vermögende Diamantenhändler, der Bentley zeitweise finanzierte und auch Vorstandsvorsitzender des Autoherstellers war, wollte mit seinem Freund Dale Bourne beweisen, dass die Eisenbahn als schnellstes Verkehrsmittel ausgedient habe und dem Auto unterlegen sei. Barnato wählte dafür einen hochklassigen Gegner aus: den Schnellzug „Train Bleu“ (englisch „Blue Train“ – daher auch die allgemein übliche Bezeichnung „Blue-Train-Wette“ oder in anderen Quellen „The Great Train Race“).
Der „Train Bleu“ war ein Luxuszug und verkehrte zwischen der Côte d’Azur und Calais am Ärmelkanal. Barnato setzte 200 Pfund Sterling – nach heutiger Kaufkraft etwa 10’000 Euro – darauf, dass er die Strecke mit seinem 6,5-Liter-Bentley „Speed Six“ schneller zurücklegen würde als der Zug. Das Rennen startete am Abend des 13. März 1930. Angeblich warteten Barnato und Bourne im Hotel Carlton an der Bar auf die Abfahrt des Zuges. Als die Nachricht eintraf, sollen sie noch in aller Ruhe ihre Drinks ausgetrunken und sich dann ins Auto gesetzt haben.
Als erfahrener Rennfahrer hatte Barnato vorgesorgt. Der Kofferraum im Heck war voll gepackt mit Benzinkanistern. In Lyon engagierte er eine Werkstatt, damit deren Zapfsäule in der Nacht besetzt war. Ausserdem bestellte er für vier Uhr in der Frühe einen Tankwagen nach dem südlich von Paris gelegenen Auxerre. Mit diesen Massnahmen sollte die Benzinversorgung während der langen Fahrt sichergestellt werden.
Trotzdem gab es einige Schwierigkeiten. Durch die Benzinzuladung war der „Speed Six“ erheblich schwerer als normalerweise. Auf den schlechten Strassen setzte der Wagen immer wieder auf, so dass Barnato nur eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h fahren konnte. Gegen Mitternacht erreichten er und Bourne Lyon. Dann aber fing es an, stark zu regnen, so dass die Sicht schwer eingeschränkt war. Auxerre erreichten die beiden Fahrer mit einer knappen halben Stunde Verspätung. Dort mussten sie sich auf die Suche nach dem Tankwagen begeben, denn der Fahrer hatte nicht verabredungsgemäss an einer Ausfallstrasse geparkt, sondern mitten in der Stadt.
Kurz vor Paris übernahm Bourne für ein paar Stunden das Steuer. Barnato war trotz schlechter Sicht und Müdigkeit bis hierher ununterbrochen gefahren. Um 10.30 Uhr am Vormittag erreichte das Team schliesslich Boulogne und konnte sich den vordersten Platz auf dem Postschiff nach Folkstone sichern. Von dort ging es dann ohne Unterbrechung nach London weiter. Um 15.20 Uhr parkte Barnato den Bentley in der St. James Street – direkt vor seinem Club. In dem Bericht eines Zeitgenossen hiess es, die beiden Rennfahrer seien genau vier Minuten, bevor der „Train Bleu“ im Bahnhof von Calais eintraf, in London aus ihrem Auto gestiegen. Die Wette war gewonnen, und Bentley um einen Mythos reicher. In Frankreich dagegen wurde die Niederlage wohl als grosse Schmach empfunden. Das zeigt zumindest die unsportliche Entscheidung des Pariser Autosalons: Bentley wurde für die Ausstellung im Herbst 1930 wieder ausgeladen.
Heute könnte man die 1200 Kilometer auf hervorragend ausgebauten Autobahnen zurücklegen. 1930 bestand die Strecke vornehmlich aus Schotterpisten und war wohl um einiges länger. Es gab auch keine Zeugen – Streckenposten oder Fotografen – die Belege für das Rennen liefern konnten. Terence Cuneo, ein britischer Maler, hat eine Rennszene später in einem Gemälde festgehalten, das allerdings ein Produkt seiner Fantasie war. Nicht nur, dass Barnato allein im Wagen sitzt. Zug und Auto fahren parallel zueinander auf Gleis und Strasse, was mit der Realität nichts zu tun hatte. Auch die Lokomotive entspricht nicht dem damals für den „Train Bleu“ eingesetzten Modell. Der wichtigste Unterschied zu Realität ist aber, dass der abgebildete Bentley „Speed Six“ im März 1930 noch gar nicht als Coupé erhältlich war. Tatsächlich waren Barnato und Bourne in einem „Speed Six Saloon“ unterwegs.
Umstritten ist heute auch, ob es jemals eine Wette gegeben hat. 1946 hat Barnato höchstpersönlich in der Zeitschrift „Bentley Drivers Club Review“ ein Statement zu dem Ereignis abgegeben. Danach habe eine französische Zeitung von der Côte d’Azur Fahrer gesucht, die Calais mindestens 20 Minuten vor dem Zug erreichen würden. Er selbst habe daraufhin geäussert, er würde sogar vorher in London sein. Es sei aber nicht zu einer Wette im eigentlichen Sinne gekommen. Dem steht wiederum eine These gegenüber, nach der sich im Hotel Carlton in Cannes eine eingerahmte Serviette befinde, auf der Barnato und Bourne den Deal schriftlich festgehalten hätten.
Die Details mögen strittig sein, das Rennen hat es jedenfalls gegeben. Und bei Bentley ist man bis heute stolz darauf, gewonnen zu haben. Zum 75-jährigen Jubiläum brachte der Hersteller eine limitierte Sonderauflage von 30 Limousinen des „Arnage“ heraus, die auf Pressefotos zusammen mit dem „Speed Six Coupé“ abgelichtet wurden.
Oberstes Bild: © El Caganer Craig Howell – CC BY-SA 2.0